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Viertes Kapitel.

Das Kriegsrecht im objectiven Sinne, Kriegsmanier d Kriegsraison. Geschichtliche Entwickelung desselben und seiner grundsätzlichen Auffassung sowie die gegenwärtig leitenden Grundsätze.

§ 65.

Das Kriegsrecht im objectiven Sinne, Kriegsmanier und Kriegsraison im Allgemeinen.

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iteratur zu §§ 65 u. 66: Aeltere hierher gehörige Abhandlungen von Strube, Dissertation sur la raison de guerre et le droit de bienséance als Anhang zu dessen Recherche nouvelle de l'origine et des fondements du droit de la nature, St. Petersbourg 1740 (S. 237 ff.) von Heffter § 26 N. 1 citirt als Struben, Abh. von der Kriegsraison und dem Convenienzrecht i. d. Sammlung auserl. jurist. Abh. Leipzig 1768, ursprünglich lat. erschienen (s. bei v. Kampß § 300 S. 635.) Scheid, D. de ratione belli. Hafniae 1744. Obrecht, D. de ratione belli et sponsoribus pacis. Argent. 1697. Pestel, D. de eo quod inter jus et rationem belli interest. Lemgoviae 1758. v. Ompteda § 300. § 282 ff. Versuch IX. 1, 111 ff. und Beiträge Précis II. § 270. Klüber § 243.

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v. Kampt

Vgl. auch Bynkershoek, Qu. jur. publ. I. 3. Moser,

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II. 1 ff. G. F. v. Martens,
Heffter § 119.

v. Neumann, v. Bulmerincq, Völkerrecht S. 362.

Resch § 141, Anm. — Calvo § 1648.

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Rolin Brocher ebendas. p. 1 ff.,

381 ff. — Auch Funck-Brentano et Sorel p. 233 ff.

Das Kriegsrecht im objectiven Sinne ist im § 47 bereits als der nbegriff der Regeln bezeichnet worden, welche rücksichtlich des Krieges von den Staaten zu beobachten sind. Es regelt im weiteren Sinne alle uf den Krieg bezüglichen Verhältnisse, also auch die zwischen den Krieg. ührenden und den dritten Staaten. Im eigentlichen Sinne und im Besonderen normirt es die Verhältnisse der Kriegführenden zu einander.

Es stellt demnach die ohne Verlegung des Völkerrechts und ohne die Gefahr der daraus zu gewärtigenden Folgen nicht verlezbaren Gejehe auf für den Beginn, die Führung und die Beendigung des Krieges, für die Behandlung der Combattanten, die Stellung der Nichtcombattanten, die von Land und Leuten der Kämpfenden überhaupt, sowie für alle

durch den Kampf hervorgerufenen besonderen Verhältnisse, und giet auch dem Kriege sein Recht. Dieses Recht ist wie jedes erlaubend :verbietend, es giebt wie jedes Rechte und Pflichten. Es gestattet : Gewalt, welche der Zweck des Krieges erheischt, aber es hindert darüber hinaus gehende unnöthige Mehr. Es läßt deshalb einerseiti kriegerischen Nothwendigkeit den nöthigen Spielraum, zieht aber a seits die zulässige humane Schranke.1) Speciell für die eigentliche K führung, die gegenseitige Anwendung von Gewaltmaßregeln und frie schen Mitteln, errichtet es Schranken gegen unnöthige Grausamkeit 5, Leidenszufügung aller Art.

Namentlich soweit es die lehtere Aufgabe verfolgt und also Schra bezüglich der Mittel der eigentlichen Kriegführung errichtet, pflegt es mit dem Namen der Kriegsmanier (loi de guerre) zu bezei und dann die bei der Natur des Krieges unter Umständen nöthige zulässige Berechtigung zur Abweichung von der Regel der Kriegsm die Kriegsraison (raison de guerre, ratio belli oder, wie Gro sagt, jus oder titulus necessitatis) zu nennen.2)

Die erstere bezeichnet demnach alle die Gewaltmaßregeln und Kri mittel, welche der Kriegführende in der Regel nicht brauchen darf, Zurückhaltungen, die er sich auch im Kriege aufzuerlegen hat und Schranken, die sich seiner Gewaltausübung entgegenstellen. Die let die Kriegsraison, umfaßt diejenigen Fälle, in denen ausnahmsweie i Kriegsmanier unbeachtet gelassen werden darf. Dies kann aber n zwei Fällen geschehen: einmal im Fall der äußersten Noth, wenn Zweck des Krieges nur durch die Nichtbeachtung erreicht werden und durch die Beachtung vereitelt werden würde; sodann im Wege Retorsion, also als Erwiderung unberechtigten Nichtbeachtens der Kri manier von der Gegenseite.

Daß in diesen beiden Fällen das Eintreten der Kriegsraison berechtigt anerkannt werden muß, ist besonders zu begründen.

1) Vgl. Calvo und Rolin Jaequemyns a. angef. D.

2) Vgl. Martens, Klüber, Heffter, Moser, v. Neumann, Shrli v. Bulmerincq, Lentner, Resch an den angef. Stellen. Von Anderen, sol Vattel, Bluntschli, Wheaton, Phillimore, Calvo, werden die Ausdri die auch in den neuen kriegsrechtlichen Codificationsversuchen nicht angewendet werde nicht gebraucht, von noch anderen geradezu als entbehrlich oder doch nicht glüc bezeichnet. Leßteres geschieht z. B. von Geffcken zu Heffter § 119, und ist allerdings zuzugeben, daß namentlich der Ausdruck Kriegsmanier zu Zwei und namentlich zu der irrigen Vorstellung Anlaß geben kann, daß es sich ume blose Manier oder Uebung anstatt eines wirklichen Rechts handle. Allein Ausdrücke sind als termini technici von einer bestimmten Bedeutung viel üblich; und an der Sache wird durch den Gebrauch oder Nichtgebrauch di Benennungen natürlich nichts geändert.

§ 66.

Die Zulässigkeit der Kriegsraison im Besonderen.

Ob in dem am Ende des vorigen Paragraphen zuleßt erwähnten Me Moral und Menschlichkeit die Kriegsraison immer empfehlen und man die Retorsion üben oder auf sie verzichten will, ist eine Frage c sich. Das Recht zur retorquirenden Nichtbeachtung der Kriegsmanier in diesem Falle vorhanden. Denn es kann, wenn die eine Seite ht erfüllt, nach bekannten Grundsäßen auch von der anderen Seite ne Erfüllung verlangt werden. Am Wenigsten kann dies im Kriege schehen, wo man durch ein unerwidertes Hingehenlassen der von r Gegenseite begangenen Verlegungen der Kriegsmanier in Nachtheil d in eine ungünstigere Lage als der verlezende Gegner versezt werden. nnte hinsichtlich des mit allen Mitteln zu erstrebenden Zieles: Brechen 3 gegnerischen Willens und Erlangen des Sieges.

Ebensowenig kann die Berechtigung zur Kriegsraison geläugnet erden beim Eintreten äußerster Nothfälle. Ist schon bei Nothlagen Einzelner die Straflosigkeit von noch so schwer verlezenden Nothstandsandlungen anerkannt, so muß das in noch höherem Grade im Kriege er Fall sein, bei dem so viel mehr auf dem Spiele steht. Wenn desalb die Sachlage sich so gestalten sollte, daß die Erreichung des Kriegs. wecks und die Befreiung aus der äußersten Gefahr durch Schranken der Priegsmanier gehindert würde, und wenn also der Zweck nur dadurch rreicht und die äußerste Gefahr, nur dadurch beseitigt werden kann, daß ie Schranke der Kriegsmanier durchbrochen wird; so darf lezteres gechehen.1) Es darf schon deshalb geschehen, weil es geschehen muß, . h. weil kein Kriegslauf in solchen äußersten Fällen sich hemmen und s freiwillig zu einer Niederlage, vielleicht zum Untergange kommen ieße, nur um das formale Recht nicht zu verlegen; m. a. W. kein Verbot, das ja auch in sich zwecklos sein würde (denn von welchem Heerführer, von welchem Staate könnte man einen solchen Heroismus der Demuth und Entsagung erwarten?), kann hier etwas erreichen und mit dem Anspruch auf Anerkennung und Gültigkeit auftreten. Natürlich fann ein derartiger Conflict nur ganz ausnahmsweise eintreten. Denn die Regeln der Kriegsmanier sind durch die regelmäßige Gewohnheit und den wohlerwogenen Vertrag so eingerichtet, daß sie regelmäßig befolgt werden können. Sie sind aufgebaut auf den thatsächlichen Verhältnissen, wie sie zu sein pflegen, ebenso wie die Regeln des Staats- und Privatrechts, und nur besonderer Ausnahmezustand kann hier wie dort die Befolgung unmöglich machen. Wie sollten auch die Vorschriften der Kriegsmanier, die zum Schuße wehrloser Privater, verwundeter und kampfunfähiger Soldaten, des Privateigenthums, der Parlamentäre, der Heilighaltung geschlossener Verträge zum Schuß eines occupirten Landes gegen unnöthige Bedrückung, Zerstörung, Ausplünderung gegeben sind,

leicht unerfüllbar sein? Nur in ganz außerordentlichen Noth- und 2nahmefällen ist das und damit ein Conflict zwischen den Vorsän der Kriegsmanier und den Anforderungen der Kriegsnothwendigkeit iz haupt denkbar. Es ist deshalb von vornherein ausgeschlossen, da Kriegsraison häufig, leichthin und beliebig zur Anwendung gebracht z in der praktischen Ausübung als mit der Kriegsmanier etwa auf glei Linie stehend betrachtet werden könnte. Es handelt sich vielmehr um etwas ganz ausnahmsweise Vorkommendes, und deshalb erscheint die Zulassung der Kriegsraison schon von vornherein als nicht allzub denklich. Wenn aber die Ausnahme vorkommt, so schließt sie, wie e Natur ist, die Regel aus und geht die Kriegsraison der Kriegsmanier vr

Die regelmäßige, ordentliche Gültigkeit des Kriegsrechts ist =. schon wegen dieses blos ausnahmsweise möglichen Eintretens der Krit raison salvirt. Wenn man aber wegen der allerdings mit voller E; schiedenheit anzuerkennenden Zulässigkeit der Kriegsraison in außerotic lichen Noth- und Ausnahmefällen meinen sollte, es gäbe nun eben halb im Grunde ja doch kein bindendes Kriegsrecht, da es ja gerade den kritischen Fällen des Conflicts mit den Anforderungen der kn führung doch nicht beachtet zu werden brauchte, und es bestünde mi anstatt eines Kriegsrechts ja nun doch allein der Kriegsbrauch in oben (§ 52) verworfenen Sinne, so hieße das weit über das 3 hinausschießen und die Endlichkeit verkennen, welche jeder rechtlic Einrichtung und jedem Geseze innewohnt. Die Kriegsraison verh sich zum Kriegsrecht wie der Nothstand zum Strafrecht, und man för mit demselben Rechte, mit dem jene Argumentation sich aufstellen li sagen, daß es überhaupt kein Strafrecht gäbe, weil dessen Sazungen doch in Nothstandsfällen nicht beachtet zu werden brauchten. Das E würde die eben erwähnte Verkennung so gut darstellen wie das Ander Durch die volle Anerkennung der ausnahmsweise berechtigten Kriegsra wird also die oben geschehene Aufstellung eines anstatt blosen, belie zu beobachtenden Kriegsbrauchs bestehenden wirklichen Kriegsrechts m im Mindesten alterirt; und ebenso wenig kann auch nur hier von der oben überhaupt zurückgewiesenen von Grotius und Pufendorf behan teten Rechte einer Aufkündigung des Kriegsrechts die Rede sein. die Kriegsmanier kann nicht beliebig aufgekündigt, sondern nur aus ger wenigen und ganz bestimmten Gründen ausnahmsweise außer Acht gelane! werden. Wenn man aber auch die Kriegsraison als etwas Unrechtlic betrachten und als einen Bruch des Kriegsrechts auffassen sollte, würde auch daraus die Nichteristenz eines ja doch möglicher V legung unterliegenden Kriegsrechts nicht gefolgert werden könne Denn die Sachlage würde auch unter diesem Gesichtspunkte wiederum de selbe sein wie auf den anderen Rechtsgebieten, auf denen allen ebenfal Rechtsbrüche, und zwar unter Umständen ungesühnte und solche, die nich wieder gut gemacht werden können, vorkommen.

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1) Die Kriegsraison ist deshalb auch zu allen Zeiten, auch im Alterthum erkannt worden. S. den interessanten Fall bei Thukydides, den v. Holzenrff i. dies. Handb. I. S. 216 hervorhebt.

2) Auf dem Boden dieser unerläßlichen Anerkennung der Kriegsraison läßt 5 eine Vereinigung finden mit dem oben erwähnten Verlangen der Militärs v. Hartmann a. E. seiner Abhandlung und die sonst oben Kap. I. Angef.), daß Zweifel die militärische Nothwendigkeit unbedingt vorzugehen und allein zu tscheiden habe. Es ist dies, wie gesagt, zuzugeben; im Zweifel, im wirklich rliegenden Fall des Conflicts kann nicht zu Gunsten des Rechtssaßes, sondern ß zu Gunsten des Kriegszwecks und der militärischen Nothwendigkeit entschieden erden. Aber es liegt nicht häufig ein wirklicher Conflict vor. Im Gegentheil t er und verträgts der Kriegszweck, daß nicht gerade so, wie vielleicht ohne den echtssaß gehandelt wäre, sondern so, wie der Rechtssaß vorschreibt, gehandelt rd, und dann gilt die Kriegsmanier, da sie gelten kann.

§ 67.

Die geschichtliche Entwickelung des Kriegsrechts und seiner grundsäßlichen Auffassung; und zwar I. überhaupt und im Alterthum.

iteratur: Die vor dem ersten Kapitel angef., die Historie betreffende Literatur: Laurent, Ward, Wheaton, Lawrence; Einiges auch bei Hosack, On the rise and growth of the law of nations. 1882. v. Holzendorff in dies. Handb. I. S. 159 ff., namentlich S. 169, 180, 191 ff., 211, 213 ff., 250 ff., 261 ff., 269 ff., und die dort Citirten. Besonders Müller-Jochmus, Geschichte des Völkerrechts im Alterthum, 1848. Wachsmuth, Jus gentium, quale obtinuerit apud Graecos ante bellorum cum Persis gestorum initium, 1862. — Schömann, Griech. Alterthümer, 1873, 3. Aufl. Osenbrüggen, De jure belli et pacis Romanorum 1836. Hälschner, De jure gentium, quale fuerit apud populos orientis. 1842 (pars prior). S. auch De Wal, Inleiding tot Volkerregt, 1835, S. 124 ff., Axel Benedix, De praeda 1876. Schulze, Grundriß 3. Vorl. über Völkerrecht, 1880, S. 4 ff. F. v. Martens in seinem

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Völkerrecht II. § 107, Bluntschli, Völkerr. i. d. Einleitung S. 12 ff. und dessen: Das Beuterecht im Kriege und das Seebeuterecht insbesondere, 1878, S. 11 ff. Schmidt Ernsthausen, Princip der Genfer Convention, Rhamon, Völkerrecht und Völkerfriede, 1881, S. 4 ff.

S. 6.

Die Frage nach der Existenz eines Kriegsrechts in der Vergangen. eit wie nach seiner Entstehung und Entwickelung im Lauf der Gehichte läßt sich im Allgemeinen dahin beantworten, daß zwar jede jeit und jedes Volk von den Anfängen der Geschichte an völker- und riegsrechtliche Beziehungen aufzuweisen hat,1) welche vielfach, und zwar erade in verhältnißmäßig weit zurückliegender Zeit viel weniger gering.

Handbuch des Völkerrechts IV.

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