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Belagerungen und Beschießungen.

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Literatur: Vattel III. 9, § 168 ff. G. F. v. Martens § 286. Bluntschli, Völkerr. 552 ff., u. Jahrb. f. Gesezgebung, Verwaltung u. Rechts pflege des Deutschen Reichs, 1871, S. 280 ff. Lentner S. 87 ff. - v. Hart mann, Kritische Versuche 2, S. 82 ff. Auch Rüstow, Kriegspolitik und Kriegsgebrauch, S. 206 ff. ist zu vergleichen, obgleich die Form seiner Aus führungen auch hier wieder eine wenig schickliche ist. Brüsseler Ertl, Art. 15 ff. Manuel 32-34. Rolin Jaequemyns in der Revue II., p. 659, 674, III., p. 297 ff., 371 ff. Dahn, Jahrbuch für die Deutsche Armee und Marine, I., S. 84 ff., und in der Münchener Krit. Vierteljahrsschrift, 1872.

Wie die sich entgegenstellenden Personen sind auch die Sachen, welche dem Vordringen der Heeresmacht, dem Niederwerfen und Besiegen des Gegners ein Hinderniß bereiten, und damit gegenüberstehende Kriegsmittel sind, Object der Bekämpfung, Wegnahme, Hinwegräumung und Zerstörung. Daher können Städte und sonstige Ortschaften, welche als ein solches Hinderniß entgegengestellt werden, Gegenstand der Belagerung (d. i. der Abschließung von der Außenwelt, der Communicationsmittel, der Aushungerung u. s. w.) und Besetzung, wie auch der Erstürmung und der damit verbundenen Beschädigung, bezw. Zerstörung, wie über haupt der Beschießung sein; während die ein solches Hinderniß nicht bietenden offenen und unvertheidigten Ortschaften und Gebäude wohl besezt, ohne besonderen Grund1) aber nicht bombardirt, gestürmt, noch überhaupt beschädigt werden dürfen.2)

Jenes gilt vorzugsweise von den Festungen und festen Pläzen, welche recht eigentlich Kampfes- und Abwehrmittel, und deshalb dem gewaltsamen Angriff ausgesezt, bezw. dazu bestimmt sind.3) Sie stellen einen Theil der feindlichen vis dar, gegen welche ebenfalls vis gestattet ist. Aber auch andere Localitäten, welche gegen eine Besetzung verschlossen oder vertheidigt werden, sind wie der Belagerung, so dem gewaltsamen Eindringen und den dazu nach Maßgabe der Kriegsnothwendigkeit nöthigen Mitteln ausgesetzt.4)

Eine vorherige Ankündigung der Beschießung ist nicht erforderlich, und kann so wenig gefordert werden wie die eines beabsichtigten Sturmes. Denn in beiden Fällen kann die Wirkung der Maßregel durch ihre vor herige Bekanntgabe beeinträchtigt werden und auch bei der Beschießung das Plößliche und Ueberraschende von Wichtigkeit sein, ganz davon ab gesehen, daß durch die vorherige Anzeige und damit verbundene Verzögerung eine kostbare Zeit verloren gehen könnte. Allerdings wird die vorherige Ankündigung in den meisten Fällen im Interesse der Humanität

liegen, und sie soll deshalb geschehen, wenn sie ohne Verlegung des Kriegszwecks geschehen kann. Sie muß aber unterlassen werden dürfen, wenn Lezteres nicht der Fall ist, und eine allgemeine Vorschrift der Ankündigung kann deshalb nicht bestehen.5) Eine solche Vorschrift könnte nur dahin lauten, daß die Ankündigung stattzufinden hätte, falls sie der Kriegführung zulässig erschiene,) und würde in dieser Beschränkung mindestens unnüß sein.

Ebensowenig kann die gleichfalls wohl aufgestellte Forderung, daß die Beschießung auf die Festungswerke beschränkt werden müsse, für gerechtfertigt erklärt werden, obgleich auch diese Forderung den Humanitätsrücksichten zu entsprechen scheint und die Festungswerke das unmittelbare Object der Vertheidigung und des Widerstandes sind. Denn abgesehen davon, daß eine solche Beschränkung meist undurchführbar sein wird, würde sie wieder die Wirksamkeit der Maßregel gefährden können, indem gerade die weitergehende Zerstörung und die dadurch auf die Einwohnerschaft hervorgebrachte Wirkung den Widerstand brechen und die Uebergabe herbeiführen kann,7) auch die die Festung vertheidigenden Combattanten, die sich nicht blos in den Festungswerken zu befinden brauchen, eine nicht zu beanspruchende Schonung erfahren würden; und das Angriffsobject ist der ganze befestigte Ort, dessen städtische und fortificatorische Bestandtheile eine untrennbare Einheit bilden, sowohl in militärischer, als auch in politischer und volkswirthschaftlicher Beziehung und dessen Ganzes bei der heutigen Auffassung und Bedeutung der Festungen einen wichtigen Central- und Stüßpunct des Landesvertheidi. gungssystems bildet.8)

Gewisse Theile und Gebäude der Festung, wie Kirchen, Schulen, Bibliotheken, Kunstsammlungen sollen dagegen ebenso wie die Hospitäler und Sanitätsanstalten möglichst geschont werden,) obgleich das namentlich bei der Beschießung natürlich auch bei der besten Absicht nicht mit Sicherheit durchführbar ist.10) Sie müssen dann aber, sofern das nicht schon von selbst geschieht, als solche kenntlich gemacht werden, 11) und dürfen außerdem nicht unredlich zu Vertheidigungszwecken, wie z. B. zur Unterbringung von Besatzungsmannschaften benugt werden,12) in welchem Falle sie der Schonung verlustig gehen würden. Ganz unzulässig und geradezu widersinnig ist aber das Ansinnen, die Beschießung einer Festung hätte deshalb überhaupt zu unterbleiben, weil besonders viele oder besonders kostbare Bau- und Kunstdenkmäler, Schäße der Wissenschaft u. s. w. sich in ihr befänden, die ja selbst bei beabsichtigter Schonung verlegt oder zerstört werden könnten. Durch eine solche Rücksicht kann sich keine Kriegführung hemmen lassen, am wenigsten, wenn die Niederwerfung des betreffenden Plazes etwa von besonderer Wichtig. keit für die Kriegführung sein sollte, und hat sich noch keine hemmen lassen. 18) Wenn man die kriegerische Gefährdung solcher Schäße nicht will, so muß man sie nicht in Festungen legen, oder keine Pläge zu Festungen machen, die solche Schäße bergen, 14) was deshalb auch ebenso

Handbuch des Völkerrechts IV.

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wie die Befestigung besonders großer und volkreicher Städte meistens vermieden wird. Daß sie einen Freibrief für das Unangegriffenbleiben wichtiger Vertheidigungsmittel und einen Verzicht auf nöthige militärische Maßregeln geben sollen, kann nicht ernsthaft discutirt werden. 15)

Ebenso wenig kann irgend ein anderer Umstand, wie der Aufenthalt von Neutralen, fremden Gesandten und Diplomaten, der Zusammenfluß vieler Fremden u. dgl. die gegen den befestigten Plaz nöthig werdenden militärischen Maßregeln irgendwie hindern. 16) Von diesen Personen gilt dasselbe wie von jenen Sachen: sie dürfen eine Festung nicht zum Aufenthaltsorte wählen, wenn sie nicht ihre Gefahren theilen wollen. Von einer Gewährung des Abzuges an diese Personen kann nur dann die Rede sein, wenn die militärischen Rücksichten sie ganz unbedenklich erscheinen lassen, so daß auch nur eine derartige Vorschrift der kriegführenden Macht nicht gegeben werden kann, sondern Alles von dem Ermessen der letteren im einzelnen Falle abhängt und eine kriegsrechtliche Regel darüber nicht besteht.

Dasselbe gilt bezüglich anderer Personen, deren Abzug vom Huma nitätsstandpuncte aus dringend wünschenswerth sein kann und deshalb auch wohl von dem Belagernden bewilligt worden ist, wie der Weiber, Greise, Kinder, Kranken, Verwundeten.17) Ob diese abziehen dürfen oder nicht, hängt wiederum nach Maßgabe des kriegerischen Bedürfnisses lediglich von dem Ermessen des Belagernden ab. Den humanitären Ansprüchen steht die Erwägung gegenüber, daß gerade das Verbleiben dieser Personen in dem belagerten Plaze die Uebergabe desselben herbei. führen oder beschleunigen kann, namentlich durch Hungersnoth oder da durch, daß der Festungscommandant durch diese Personen mittelbar oder unmittelbar zu Gunsten der Uebergabe beeinflußt wird. Die Entlassung kann den Belagerungszweck sehr bedeutend hemmen, die Nöthigung der genannten Personen zum Verbleiben kann ihn beträchtlich fördern.18) Folglich kann die Gewährung des Abzugs als eine Unterstützung des Gegners vom Belagernden nicht verlangt werden, ganz abgesehen von den Störungen und Belästigungen, welche ihm aus der Entlassung er wachsen können.

Es war daher ein Act besonderer Großmuth, Milde und Humanität, daß die Deutsche Heeresleitung im 1870/71er Kriege den Nicht- Com battanten, sobald es, ohne den Kriegszweck zu sehr zu schädigen, irgend anging,19) freien Abzug aus Straßburg gewährte,20) wodurch aber an der Regel nichts geändert und der Saß nicht alterirt wird, daß die Entscheidung über die Entlassung lediglich bei dem Belagernden steht.

Verlassen die in Rede stehenden Personen, sei es aus freien Stüden, sei es auf Weisung des in dem belagerten Plaze Commandirenden, den Plaz ohne oder gar gegen den Willen des Belagernden, so kann der leztere natürlich alle Gewaltmittel, um Jene zurückzutreiben, anwenden. Denn er braucht sich keine Schwächung seiner eigenen oder Stärkung der gegnerischen Position, noch ein Eindringen in seine Linien gefallen zu

lassen, sondern ist zur Abwehr mit allen Mitteln berechtigt. Daraus folgt für den Commandanten der Festung die Verpflichtung, die in Rede stehenden Personen zu behalten, bezw. zurückzunehmen.21)

Ebenso ist der Belagernde berechtigt, sich gegen Einzelne oder größere Partien, welche die Festung verlassen, durch Gefangennahme (z. B. weil fie nach Außen Nachricht geben könnten) zu sichern, wenn er sich damit begnügen will; weitere kriegsrechtliche Maßregeln, die nach Lage der Umstände begründet sein können, natürlich vorbehalten.

Wenn der belagerte Play, sei es durch Uebergabe, sei es durch die gegen ihn gebrauchten Gewaltmittel, Erstürmung und Beschießung, in die Hände des Belagernden gefallen ist, so ist nach heutigem Kriegsrecht jede weitere Schädigung, Zerstörung, Vernichtung, Jnbrandsteckung oder dergleichen völlig ausgeschlossen. Alles Derartige ist eben so vollständig untersagt wie die bereits erwähnte Tödtung oder Bestrafung der Vertheidiger und die noch zu erwähnende Plünderung, 22) obgleich es, namentlich die Plünderung, als Ueberbleibsel des alten barbarischen Kriegsrechts noch lange geübt und für zulässig erachtet wurde.23) Nur die vom Kriegs. zwede geforderten Schädigungen sind wie überall (s. gleich weiter im Text), so auch hier gestattet,24) wie z. B. die Zerstörung der Festungswerke, oder solche, die aus anderen Gründen als dem der stattgehabten, wenn auch hartnäckigen oder unnüßen Vertheidigung, zur Strafe nöthig find, was unter Umständen der Fall sein kann.

Aus denselben Gründen, namentlich also, wenn der Kriegszweck es fordert (hiervon wie von der Zerstörung zur Strafe wird im folgenden Kapitel die Rede sein), ist auch die Zerstörung oder Beschädigung von offenen Ortschaften oder Theilen derselben, einzelnen Stadttheilen oder Häusern, sowie von sonstigen Sachen, Eisenbahn- und Telegraphen-Anstalten, Brücken u. s. w. zulässig. 25) Deshalb können keine Regeln aufgestellt werden, welche solche Beschießungen unbedingt untersagen wollen. Solche Regeln sind vielmehr nicht nur durch die oben bereits erwähnte Zulässigkeit des gewaltsamen Angriffes im Fall der Vertheidigung beschränkt, sondern das gewaltsame Vorgehen gegen offene Orte jeder Art ist auch gestattet und fann durch keine Rechtsregel untersagt werden, wenn der Kriegszweck es fordert; denn es kommt auf die Bedeutung des Ortes für diesen und nicht auf den Umstand an, ob der Ort vertheidigt wird oder nicht.26) Die Bedeutung kann aber für die Verfolgung eines geschlagenen Feindes, für die Beeinträchtigung oder Hinwegräumung eines gegnerischen Schußmittels, für den eigenen Schuß und für viele andere Zwecke der Krieg. führung sehr groß und wichtig sein.27)

1) S. hierüber am Ende dieses Paragraphen.

2) Heutzutage allgemein anerkannt. Brüsseler Erkl., Art. 15, Manuel 32 c. Die von den Franzosen beim Beginn des 1870/71er Krieges vorgenommenen Beschießungen offener Städte und Pläße, wie namentlich Saarbrückens, waren

deshalb völkerrechtswidrig, obgleich bezüglich dieser Beschießungen vielfach Ueber. treibungen und Unrichtigkeiten ausgesprochen sind. Vgl. auch unten Note 26. Den Deutschen ist eine Beschießung offener und unvertheidigter Ortschaften in keinem Falle nachgewiesen worden.

3) Dies ist so selbstverständlich und für eine ernsthafte Kriegführung unentbehrlich wie der Saß, daß im Kriege das Schießen auf die gegnerischen Soldaten erlaubt ist. Mit Aeußerungen, wie sie bei Fiore, Trattato III. 1330 sich finden, daß das Bombardement heutzutage kein Kriegsmittel mehr sei, sollte man vorsichtig sein. Denn sie gehören zu denjenigen, welche den Credit der Völkerrechtstheorie bei den maßgebenden Praktikern erschüttern und die an anderer Stelle erwähnte Abneigung und ablehnende Haltung der letteren gegen diese Theorie befördern müssen. Kein Soldat oder Staatsmann wird die angeführte Aeußerung ernst nehmen. Wohl aber kann er leicht die Neigung verlieren, der Völkerrechtswissenschaft, die in dieser Frage solche Forderungen an ihn stellt, auch in anderen Fragen weitere Beachtung zu schenken. Vgl. Note 6 a. E. Der im Text aufgestellte Saz wird auch von der Brüsseler Erklärung, Art. 15, und vom Manuel des Völkerrechtsinstituts 32c. implicite bestimmt anerkannt. Vollständig grundlos sind deshalb die von gegnerischer Seite gegen die Deutsche Heerführung im leßten Deutsch Französischen Kriege erhobenen Anschuldigungen wegen der vorgenommenen Belagerungen und Beschießungen. Sie waren, dem Völkerrecht streng entsprechend, absolut nothwendig (wie namentlich die von Paris) aus politischen wie aus militärischen Gründen und sind stets mit thunlichster, theilweise sehr weit gehender Humanität ausgeführt worden. Daß die Art und Weise, in der die Deutschen 1870 und 1871 den Belagerungskrieg in Frankreich geführt haben, wie ja auch der Erfolg gezeigt hat, die beste und sicherste und folglich kriegsnothwendig-berechtigte, sowie auch zugleich die humanste, weil die die wenigsten Menschenopfer verlangende war, weist in ganz schlagender, begründeten Widerspruch) ausschließender Weise nach v. Hartmann S. 92 ff. S. auch Rolin - Jaeque myns III. S. 300. Damit erledigen sich die entgegenstehenden, zum Theil ganz wunderlichen Behauptungen Calvo's und Französischer Generale und Beamten aus der Kriegszeit vollständig.

4) Daß solche Orte den Festungen selbstverständlich ganz gleich stehen und folglich die gegen ihre Beschießung durch die Deutschen im 1870/71er Kriege von Französischer Seite erhobenen Vorwürfe ganz unbegründet waren, führt aus Rolin Jacquemyns a. a. D. III. p. 298.

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5) Gleichwohl wird sie vielfach behauptet, so von Klüber § 265, Heffter § 125. Gegen das Bestehen einer Verpflichtung zur Ankündigung sprechen sich u. A. aus Geffcken, Note 5 zu Heffter § 125, Lentner a. a. D.; und auch der menschenfreundliche Bluntschli § 554 vermag die Forderung nicht für alle Fälle zu vertheidigen, wenn er sie auch für gute Kriegssitte erklärt, die zu üben sei in den Fällen, in denen sie geübt werden kann. Hiermit kann man einver standen sein, aber es ist damit nichts gesagt, indem die humane Sitte, wo es angeht, geübt werden und sonst, wenn der Kriegszweck entgegensteht, unterlassen werden wird, also eine bindende Vorschrift nicht besteht. Die Fälle, in denen e solchergestalt freiwillig thatsächlich geübt ist (s. solche bei Calvo § 1820) beweisen deshalb auch nichts für das Bestehen einer allgemeinen Verpflichtung zur vorherigen Anzeige. Uebrigens wird wohl (so von Resch § 155) unterschieden zwischen vor heriger Aufforderung zur Uebergabe und Bedrohung mit der Beschießung einer seits und der Anzeige des Beginns andererseits. Vgl. Rolin - Jaequemyus.

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