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Drittes Kapitel.

Die Rechte und Pflichten der Kriegspartei gegenüber dem feindlichen Lande und seinen Bewohnern.

§ 112.

I. In Ansehung der Person der Landesbewohner.

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Guelle,

Literatur zu diesem und dem folgenden Paragraphen: Grotius L. III., ch. 11. Bynkershoek, Quaestiones juris publici I., 1. Vattel L. III., ch. 5, ch. 8, und dazu Pradier. Fodéré. G. F. v. Martens, Précis §§ 272, 277 und dazu Vergé und Pinheiro Ferreira. Heffter § 124 a. E., 126. Bluntschli, Völkerrecht, 568, 573 ff., 600, 631 ff., und in v. Holzendorff's Jahrbuch I., S. 289, 309. Wheaton (Boyd) § 342 f. Halleck ch. 20 (T. II.). Hall P. III., ch. 2. Fiore L. 8, ch. 7. Brocher in der Revue 1873, p. 321 ff. Précis I., p. 129, 132, II. p. 38 ff., und Guerre continentale, p. 92, 95, 175 ff. Vielfach von unhaltbaren Vorstellungen ausgehend und zu unmög. lichen Forderungen gelangend de Waxel, L'armée d'invasion et la population, 1874. Auf einen anderen, speciellen Zielpunct ausgehend, aber doch die hierher gehörigen Fragen behandelnd Féraud Giraud, Occupation militaire, Recours à raison des dommages causés par la guerre, 1881; geschrieben in der Absicht, bezüglich des 1870/71ger Krieges unparteiisch zu sein, und auch objectiver und in der Form angemessener als andere Französische und Franzosenfreundliche Veröffentlichungen, sowie wissenschaftlich beachtenswerth, aber doch vielfach befangen und gerade da auf die Autorität von Calvo und Anderen sich stüßend, wo wissenschaftliche For schung dies am wenigsten thun kann. Löning, L'administration du gouvernement général de l'Alsace durant la guerre de 1870/71 in der Revue de droit international, 1872 p. 622 ff., 1873 p. 69 ff.. dann in erweiterter Gestalt als besondere Schrift Deutsch erschienen: Die Verwal tung des General Gouvernements im Elsaß, Straßburg 1874; hier nach dieser Deutschen Ausgabe angeführt. Dahn, Jahrb. für die Deutsche Armee und Marine, Bd. III. S. 60 ff., und in der Münchener Krit. Vierteljahrsschrift, Bd. Rolin Jaequemyns in der Revue, 1870 p. 666 ff., 1871 p. 338 f., auch 1872 p. 509 ff. Amerikanische Kriegsartikel an verschiedenen Stellen (16, 23, 25, 33, 42, 44, 54 f., 68, 85, 89 ff.). Field, Outlines, 769 f., 824. Brüsseler Erklärung, Art. 36–38.

14 u. 15.

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Manuel des Völkerrechtsinstituts 46 ff. Lentner §§ 17, 18. Dazu zu vergleichen die oben § 67 ff., die ferner in den Noten dieses und des folgenden Paragraphen, sowie die zu II. u III. dieses Kapitels angeführte Literatur.

Obgleich bei der Kriegführung vor Allem die Combattanten und die bezüglich dieser geltenden Rechte und Pflichten in Betracht kommen, so ergeben sich, worauf oben (§§ 69, 90) bereits hingewiesen worden ist, aus dem natürlichen Verlauf des Krieges doch auch mannigfache Beziehungen zu den übrigen Angehörigen des gegenüberstehenden Landes und diesem Lande selbst, welche ebenfalls der rechtlichen Ordnung bedürfen.

Dies gilt namentlich, wenn die Heeresmacht des einen Staates in das Gebiet des anderen eingedrungen ist und dieses occupirt hat. Die aus dieser occupatio bellica erwachsenden rechtlichen Folgen gehen nach einer dreifachen Richtung auseinander, indem sie sich beziehen einmal auf die Person der nicht-combattirenden Angehörigen des feindlichen Staates, sodann auf das zu lezterem gehörige Vermögen, sowohl das private als das öffentliche, und endlich auf die Regierung und Verwaltung und überhaupt vorläufige Beherrschung des gegneri. ichen Staates selbst.

Von dem ersteren, das mit dem bereits Vorgetragenen am engsten verbunden ist und deshalb auch schon mehrfach berührt werden mußte, joll zunächst gehandelt werden.

Während früher nach dem oben1) Vorgetragenen sämmtliche Angehörige des feindlichen Landes der Gewalt des anderen schuß- und rechtlos gegenüberstanden und folglich der lezteren im Fall einer Occupation auf Gnade und Ungnade preisgegeben waren, sind sie nach gegenwärtigem Kriegsrecht keine Feinde,2) sondern, auch die im inneren Dienst Waffentragenden, friedliche, mit den kriegerischen Gewaltmaßregeln zu verschonende Bürger. Sie sind und bleiben Rechtssubjecte, die auch im Fall der Occupation ihres Landes durch den gegnerischen Staat ungestört und, abgesehen von der gleich zu erwähnenden kriegsnothwendigen Einschränkung, wie in Friedenszeiten durch die Rechtsordnung geschützt fortleben,) so daß sie vor jedem unnöthigen, durch die Kriegsnothwendig. feit nicht geforderten Zwange bewahrt bleiben. Dagegen haben sie sich, wie ebenfalls an früherer Stelle bemerkt worden ist,) den durch den Ausnahmezustand des Krieges nöthig werdenden Beschränkungen, Lasten und Zwangsmaßregeln zu unterwerfen und sind der occupirenden Macht als der thatsächlich und kriegsrechtlich herrschenden Gewalt zu vorläufigem Gehorsam verpflichtet,5) der erforderlichen Falles wie die Erfüllung jeder Pflicht erzwungen werden darf.“)

Hieraus ergiebt sich für die persönliche Stellung der Bewohner des occupirten Landes oder Landestheiles das Folgende.

Die Landesbewohner dürfen an Leib und Leben, an Ehre und Freiheit, an Familienstand und religiöser Stellung wie Uebung nicht

verlegt oder verkürzt werden. Verstöße hiergegen würden schwere Verlegungen des Völkerrechts darstellen. Die Einzelnen aber, die dergleichen begehen, sind von ihrem Staate streng zu strafen.) Widerrechtliche Tödtungen, dolose wie fahrlässige Körperverlegungen, Beleidigungen, unbegründete Freiheitsbeschränkungen, Störungen des häuslichen Friedens, Angriffe auf Familie, Ehe und Sittlichkeit, Störungen der religiösen Ueberzeugungen und Bräuche, des Gottesdienstes u. s. w., Beschimpfungen von Gegenständen religiöser Verehrung, Leichen- und Gräber-Ent weihungen und überhaupt alle verbrecherischen und rechtswidrigen Angriffe und Vergewaltigungen der Person sind deshalb vollständig ausgeschlossen) und falls sie von Einzelnen dennoch begangen werden sollten, ebenso strafbar wie die gegen die eigenen Staatsangehörigen unter nommenen Verbrechen.9)

Analog der Unverleglichkeitsstellung bei gewissen oben erwähnten Personen10) ist nun aber auch bei den friedlichen Landesbewohnern Voraussetzung und Correlat ihrer geschützten und freien Stellung, daß sie sich ihrerseits auch wirklich vollständig friedlich verhalten, von jeder Theilnahme am Kampfe und Unterstüßung der Kriegführung ihrer Lands. leute absehen, den Gehorsam gegen die occupirende Macht nicht versagen und sich aller Angriffe und Schädigungen der fremden Truppen und der occupirenden Macht überhaupt enthalten. Wenn diese Vorausseßung nicht zutrifft, so kann auch von der gegen Verlegungen geschüßten Stellung der Landesbewohner keine Rede sein. Dieselben verfallen viel mehr der vollen Gewaltsamkeit und strengen Bestrafung durch das Kriegsrecht. Denn ebenso wie aus dem Saze, daß nach heutigem Kriegsrechte die Privaten keine Feinde sind, der hervorgehobene Schuß der Landesbewohner folgt, so folgt andererseits aus demselben Saze, daß die Landesbewohner sich auch activ von Feindseligkeiten fernhalten müssen und die feindliche Heeresmacht gegen jeden von Privaten ausgeführten Angriff und Schaden geschüßt sein muß. Verbrecherische Angriffe auf Personen, welche zum occupirenden Heere gehören, Lebensnachstellungen u. s. w. fallen deshalb auf Grund der modernen Anschauung ebenso wie die gegen andere Personen, also namentlich die in Friedenszeiten an den eigenen Landsleuten begangenen, schon unter die Strafdrohungen des bürgerlichen Strafrechts.11)

Die occupirende Macht ist auch ihrerseits nach Kriegsrecht berechtigt, gegen solche Angriffe, Gefahren und Schädigungen die erforderlichen Abwehr- und Abschreckungsmaßregeln anzuwenden, 12) weil zur Sicherung im Kriege und im feindlichen Lande das gewöhnliche Recht nicht immer genügt, seine Anrufung auf dem gewöhnlichen Wege ebenfalls ungenügend und unzweckmäßig sein kann, möglicherweise sogar der gute Wille zur Anwendung dieses Rechtes fehlt und an Stelle der regelmäßigen Herrschaft die der occupirenden Macht, an die des ordentlichen Rechts und der ordentlichen Gerichtsbarkeit in solchen Fällen die des Kriegs, rechts und der Kriegsgerichte tritt. 13)

Deshalb verfallen Handlungen, wie Tödtungen oder Verlegungen der fremden Soldaten, z. B. von den Quartiergebern, ebenso Beraubungen derselben, desgleichen Angriffe auf Sachen der Occupirenden oder auf zugeführte Lebensmittel, wie Vernichtung von Schießbedarf, ebenjo Zerstörungen oder Beschädigungen von Communicationsmitteln, wie Brücken, Canälen, Landstraßen, Eisenbahnen, Telegraphenlinien, den strengen Strafen der Martialgeseße. 14)

Namentlich ziehen auch die Kriegsrebellion und der Kriegsverrath solche Folgen nach sich.

Die Beurtheilung der Kriegsrebellion, d. i. die Waffenergreifung der Landesbewohner gegen die Occupanten, hat sich bereits aus oben15) Vorgetragenem ergeben.

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Unter Kriegs verrath ist hier die Schädigung oder Gefährdung der occupirenden Macht durch Täuschung oder (sei es directes, sei es indirectes) Nachrichtgeben an das eigene Heer über Stellung, Bewegungen, Pläne u. s. w. des Feindes, was auch ohne vorhergehende Spionage statthaben kann, 16) indem der Betreffende ohne eine solche, ohne sein Zuthun oder doch auf erlaubtem Wege in den Besig der Nachrichten gekommen ist zu verstehen.17) Ist Derartiges vor erfolgter Occupation geschehen, so kann es als die Erfüllung einer patriotischen, zur Zeit noch nicht durch die vis major des Kriegslaufes untersagten Pflicht von der occupirenden Gewalt nicht geahndet werden. Nach erfolgter Occupation berechtigt es aber, ähnlich wie die Spionage und wie sonstige Schädigungen des Occupirenden, zu den strengsten Abwehr und Abschreckungsmaßregeln. Uebrigens kann der Kriegsverrath nicht nur im Fall und unter der Voraussetzung eines feindlichen Landes oder Landestheiles geübt werden, z. B. wenn der im Staate A. lebende Staatsangehörige des Staates B. dem lezteren vom ersteren aus kriegsgefährliche Nachrichten giebt; wie überhaupt der im nicht occupirten Lande lebende Unterthan des feindlichen occupirten Staates seinen im lezteren aufhältlichen Landsleuten im Wesentlichen gleich steht.

Eine Art des Kriegsverraths ist die Täuschung beim Wege führen, 18) begangen durch das absichtliche Führen des feindlichen Heeres, bezw. von Abtheilungen desselben auf falsche oder unvortheilhafte Wege durch einen Landesbewohner. Hat derselbe sich zu der Führung selbst erboten oder dieselbe auf Aufforderung freiwillig übernommen, so sind Thatbestand und Ahndungsberechtigung des Kriegsverraths außer Zweifel. Aber auch wenn er troß erklärter Abneigung zu der Führung veranlaßt oder gar gezwungen war, kann nicht anders entschieden werden. Denn er schuldete der occupirenden Gewalt, die ihrerseits zu dem geübten Zwange durch die Kriegsnothwendigkeit genöthigt und folglich berechtigt ist,19) diesen Gehorsam, oder durfte wenigstens nicht eine active Auflehnung und positive Schädigung begehen, sondern hätte sich äußersten Falls auf den passiven Ungehorsam beschränken und dessen Folgen tragen müssen, die nicht schlimmer als die seiner positiven Täuschung hätten sein können;

ganz davon abgesehen, daß die Weigerung des Führers eine erheuchelte sein kann und in Wahrheit die Gelegenheit zur Schädigung des Feindes gern ergriffen wird. Demgegenüber kann die Strenge und Härte, die unter Umständen wenigstens in der (auch hier regelmäßig in der Todesstrafe bestehenden) Bestrafung des wegen Kriegsverraths bestraften Wegeführers liegen kann, nicht in das Gewicht fallen, so begreiflich auch hier wieder die menschliche Neigung zu einer milderen Beurtheilung ist. Die Kriegs rechtswissenschaft darf sich durch eine solche Neigung aber auch hier nicht zu einer andern Entscheidung und zu der Aufstellung hinreißen lassen, es dürfe in dem vorliegenden Falle nur Gefangennahme und nicht Be. strafung stattfinden, obgleich dies neuerdings geschehen ist;20) und die allgemeine Meinung hält auch an dem hier vertretenen Standpuncte fest.21)

Auch derjenige Wegeführer, der im occupirten Lande seinen eigenen Leuten den Weg zeigt, unterliegt dem Martialgeseze.

1) §§ 67, 68. Allerdings sind schon im Mittelalter Verbote der Tödtung friedlicher Landesbewohner erlassen worden, c. 2 X. I, 34. Aber die Krieg führung entsprach dem noch in den leztvergangenen Jahrhunderten nicht (Dreißig, jähriger Krieg, die Kriegszüge Ludwig's XIV.). In der Literatur trat noch Bynkershoek für völlige Unbeschränktheit willkürlicher Gewaltausübung ein (j. auch Wolff, Jus gentium, § 878), während schon Grotius a. a. D. § 8 ff. den entgegengesetzten Standpunct vertrat.

2) S. oben §§ 68, 69 und den dort erwähnten Vertrag zwischen Preußen und Nordamerika von 1785, Art. 23, und für die neueste Zeit die Bestimmungen der Brüsseler Declaration, des Manuel des Völkerrechtsinstituts und die Amerik. Kriegsartikel. Anders, aber nach gegenwärtigem Völkerrecht auch vom strengsten Kriegsrechtsstandpuncte aus ganz verwerflich, ist die beim Ausbruch des 1870/71er Krieges nicht nur von der Presse, sondern auch von amtlicher Stelle Frankreichs an das Großherzogthum Baden gerichtete Drohung, daß selbst Frauen nicht geschont werden sollten. Sonst wird gerade die Unverleßlichkeit der Frauen, Kinder und Greise besonders, bezw. zuerst hervorgehoben; s. z. B. Grotius.

3) Dies sprach aus und war der wirkliche Sinn der oben § 69 erwähnten berühmten Proclamation König Wilhelm's bei der beginnenden Bejezung Französischer Landestheile im Anfang des 1870/71er Krieges. Es ist auch in verschiedenen anderen Deutschen Tagesbefehlen und Proclamationen jenes Krieges ausgesprochen worden. Auch Wellington erließ 1813 beim Ueberschreiten der Französischen Grenze eine Proclamation ähnlichen Inhalts.

4) § 90.

5) S. hierüber weiter unten unter III. Vgl. vorläufig Bluntschli 573, Dahn, Jahrb. für die Deutsche Armee und Marine.

6) Manuel 48.

) Daß dies geschieht, ist durch die Militärstraf. und sonstigen Geseze der einzelnen Staaten vorgesehen.

8) Brüsseler Erklärung, Art. 38, Manuel 49.

9) S. Note 7.

10 Sanitätspersonal u. s. w.

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