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Dreißigstes Stück.

Die Neutralität.

Von

Geh. Rath Prof. Dr. Geffcken.

§ 128.

Das Princip der Neutralität.

Literatur: Grotius III., cap. 17. Bynkershoek, Quaest. jur. publ. I., сар. 9. - Berner in Bluntschli und Brater's Staatswörterbuch VII,, S. 252. Heffter § 144. Phillimore III., ch. 9. — Hall I., ch. 4. Calvo III., p. 363, 67.

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Krieg ist der Zustand des Kampfes zwischen zwei oder mehreren Staaten, in welchem dieselben versuchen, einen Gegensatz von Interessen und Ansprüchen, der durch Mittel der Verständigung oder Acte einseitiger Selbsthülfe nicht auszugleichen schien, gewaltsam dadurch zu überwinden, daß jeder mit Aufgebot aller Kräfte die Mittel zu vernichten strebt, durch welche der Gegner seinen Willen aufrechterhält. Hierdurch ist die Frage gegeben, wie verhalten sich zu diesem Kampfe andere Staaten, die an demselben nicht betheiligt sind und nicht betheiligt sein wollen? Nach unserem heutigen Rechtsbewußtsein muß die Antwort dahin lauten, daß sie einerseits sich jeder Handlung enthalten müssen, welche die Krieg. führung des einen oder des anderen Theiles begünstigen würde, daß sie aber andererseits auch verlangen können, innerhalb dieser Grenzen ihre friedlichen Beziehungen mit beiden Theilen gleichmäßig fortzuseßen.

Dieser Zustand unparteiischer Nichttheilnahme gegenüber einem be stehenden Kriegszustande heißt völkerrechtlich Neutralität (qui neutrarum partium sunt). Einem Streit zweier Staaten, der noch nicht in Krieg übergegangen ist, werden dritte, die sich als unbetheiligt betrachten, passiv zusehen. Von Rechten und Pflichten der Neutralität ist erst die Rede, wenn zwischen zwei anderen Parteien der Kriegszustand unzweifelhaft ist.

Dieser Begriff der Neutralität und ihr Recht, die uns heute als selbstverständlich erscheinen, gehören indeß erst einer verhältnißmäßig neuen Zeit an. Man wußte nichts davon, als die feindlichen Beziehungen der Staaten zu einander längst Gegenstand ausgebildeter Regeln geworden waren und das Herkommen dem, was im Kriege erlaubt war, Schranken gezogen hatte. Im Alterthum wie im Mittelalter galten bei einem Kriege zwischen zwei Staaten die übrigen als Freunde oder Feinde, und da man den Begriff der Neutralität als eines Rechtes nicht kannte, hatte

man auch kein Wort dafür. Noch das Consolato del Mare im 14. Jahrhundert, das uns die erste authentische Kunde von der Begrenzung des Rechtes der Kriegführenden zur See giebt, spricht nur von „amichs". Erst allmählich mit dem wachsenden Handelsverkehr und der Herausbildung eines Gleichgewichtes der Mächte erschien es zulässig, in einem Kampfe anderer Staaten eine Stellung als Unbetheiligter einzunehmen, der das Recht hat, seine friedlichen Beziehungen mit beiden Gegnern fortzusehen Auch dann war dies Recht der Neutralität lange sehr unvollkommen. Die Kriegführenden suchten es einerseits in enge Grenzen einzudämmen, die Neutralen erlaubten sich andererseits Handlungen, welche heute als mit wirklicher Unparteilichkeit durchaus unvereinbar anerkannt sind; noch bei Grotius ist die Behandlung der Frage de his qui in bello medii sunt“ von größter Dürftigkeit. In dem Maße jedoch als das Europäische Staatensystem zur Ausgestaltung gelangte und der internationale Handel namentlich zur See immer größeren Aufschwung nahm, gewann die Stellung der Neutralen an Festigkeit und Klarheit. Ihrem gemein samen Widerstand, der durch die Begründung der Vereinigten Staaten von Amerika neue Kräftigung erfuhr, gelang es immer mehr, das Bestreben einzelner großer Mächte, die Rechte der Kriegführenden besonders zur See, einseitig geltend zu machen, in bestimmte Grenzen zurückzuweisen; und diese Entwickelung wurde unterstüßt durch die Eifersucht der Kriegführenden selbst, welchen die Klugheit gebot, die Rechte der Neutralen zu achten, um sie nicht in das Lager des Gegners hinüberzudrängen. Indem so das Recht der Neutralität, trog zeitweiliger Verdunkelungen, wie in der Periode der Napoleonischen Gewaltherrschaft, einen stetig aufsteigenden Gang verfolgte, darf man sagen, daß dasselbe heute, bei mancher Ungewißheit und Unvollkommenheit im Einzelnen, in seinen Grundzügen ebenso feststeht als das Recht der Kriegführenden.

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Das Recht jedes unabhängigen Staates, während des Krieges anderer Staaten neutral zu bleiben, so weit er nicht einem derselben durch Vertrag zur Kriegshülfe verpflichtet ist, fließt aus der Souveränetät. Hat ein Staat dies Recht nicht, so ist er auch nicht unabhängig, sondern steht in einem Vasallen-, Schuß- oder Bundesverhältniß, welches die Freiheit seiner Bewegung beschränkt. Dagegen unterscheidet sich der Natur der Dinge nach die Freiheit des Verhaltens der Neutralen zu den Krieg. führenden von der im Friedensstande. Während des lezteren steht es jedem Staate kraft seiner Unabhängigkeit frei, einen anderen Staat vor anderen zu bevorzugen, demselben z. B. geringere Zölle für die Einfuhr seiner Waaren, günstigere Bedingungen für dessen Schiffe in seinen Gewässern,

erleichterte Auslieferung von Verbrechern u. s. w. zu bewilligen. Die betreffende Regierung seßt sich dadurch seitens dritter, ungünstiger behandelter Staaten einer Retorsion aus, aber sie bleibt dabei mit diesen in friedlichen Beziehungen. Im Kriegszustande ist dies anders. Jede Gunst, welche die neutrale Regierung einer Partei für ihre Kriegführung gewährt, vermehrt deren Mittel, ihrem Gegner zu schaden; sie darf also nichts thun oder unterlassen, wodurch einem Theil ein Vortheil gegen den anderen eingeräumt wird, denn dies würde der farblosen Unparteilichkeit widersprechen, in welcher eben das Wesen der Neutralität besteht. Man kann daher nicht von einer vollständigen und unvollständigen Neutralität sprechen, und als leztere bezeichnen, wenn man einem Gegner nur eine beschränkte Hülfe durch Stellung einer gewissen Truppenzahl oder durch Subsidien leistet. So sagt Grotius: „In Procopio legimus, in exercitu hostium eum censeri qui quae proprie ad bellum usui sunt hostili exercitui subministrat" (III. c. 17, § 3. 2). Der benachtheiligte Gegner ist also vollkommen berechtigt, den Staat, der eine solche Hülfe leistet, als Feind zu behandeln, mindestens ihn vor die Wahl zu stellen, ob er jene Hülfe aufgeben oder die Folgen seiner Haltung tragen will. Desterreich war unstreitig nicht mehr neutral, als es im Krimkriege am 2. December 1854 mit England und Frankreich ein Bündniß schloß, durch dessen Art. 2 es sich verpflichtete, die Donaufürstenthümer gegen. jede Rückkehr Russischer Truppen zu vertheidigen, dagegen denen der Kriegführenden daselbst volle Freiheit der Bewegung zu sichern. Es war dies ein Act der Feindseligkeit, welcher Rußland vollkommen berechtigte, Desterreich den Krieg zu erklären. Es that dies nur deshalb nicht, um die Zahl seiner Feinde nicht zu vermehren.

Ebenso ist es ein innerer Widerspruch, von einer wohlwollenden Neutralität zu reden; eine Haltung, welche für einen Kriegführenden wohlwollend ist, ist nothwendiger Weise für den anderen übelwollend, also keine Neutralität mehr. „Si medius sim, alteri non possum prodesse, ut alteri noceam" sagt Bynkershoek (Quaest. jur. publ. I., c. 9). Grotius vermischt noch die Frage der Gerechtigkeit eines Krieges mit der Neutralität. „Eorum, qui a bello abstinent, officium est, nihil facere, quo validior fiat is, qui improbam favet causam, aut quo justum bellum gerentis motus impediantur" (III. c. 17, § 3). Mit Recht entgegnet Bynkershoek: Si recte judico, belli justitia vel injustitia nihil quicquam pertinet ad communem amicum; ejus non est, inter utrumque amicum, sibi invicem hostem, sedere judicem et ex causa aequiore vel iniquiore huic illive plus minusve tribuere vel negare" (1. c.). Ungerechtigkeit eines Krieges Seitens eines der Kriegführenden kann für einen dritten Staat Anlaß werden, gegen denselben gleichfalls als Partei in den Krieg einzutreten, selbst wenn er nicht unmittelbar an dem Kriegsgrunde betheiligt ist, insofern er glaubt, daß ein Sieg des Unrechts das Recht überhaupt gefährden würde; und je hervorragender die Machtstellung eines Staates ist, desto mehr wird es für ihn zur morali

Die

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