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Wenn nun an dem Satz festgehalten werden muß, daß es der Billigkeit entspräche, Fremde den Einheimischen gleichzustellen, so gebietet doch die Billigkeit gewiß nicht die Bevorzugung der Fremden vor den Einheimischen, wenn auch einzelne in der Landwirthschaft oder Industrie zurückgebliebene Staaten zur Hebung derselben den in ihrem Gebiet zum Betriebe der Landwirthschaft oder der Industrie sich an siedelnden Fremden bestimmte Vorrechte vor den Einheimischen, wie Abgabenfreiheit, Freiheit von Militärdiensten, Landerwerb zu niedrigeren Preisen als den durchschnittlich üblichen, ja sogar Gerätschaften zum Betriebe unentgeltlich oder zu sehr niedrigen Preisen gewährt haben. Die Forderung einer Bevorzugung der Fremden vor den Einheimischen an und für sich nannte der Neapolitanische Gesandte, in der berüchtigten Schwefelfrage zwischen Großbritannien und Neapel im Jahre 1838, ein großes Paradoxon der Politik, wogegen freilich Wurm (1. c. 473 ff.), indeß mit Unrecht, im Falle der Nichtgewährung einer solchen Bevor zugung, nach fehlgeschlagenen Unterhandlungen, eine Retorsion für ge rechtfertigt hält. Schon zulässiger erscheint die Forderung jener Bevorzugung einem halbbarbarischen Staat gegenüber, eine Durchseßung durch Retorsion aber, falls sie verweigert wird, nicht berechtigt, da civilisirte Staaten uncivilisirte in die Civilisation hineinzuzwingen nicht berechtigt sind und noch weniger von diesen ihren materiellen Interessen dienende Bevorzugungen für ihre Staatsangehörigen durch Gewaltmaßregeln zu erzwingen.

Der Zweck der Retorsion ist nicht Strafe, wogegen schon Wurm (1. c. 359) Widerspruch erhebt, sondern nur, daß die Unbilligkeit, gegen welche sie gerichtet ist, aufhöre. Sobald dieser Zweck erreicht ist, hat daher die Retorsion aufzuhören. Daß aber die Retorsion nur in dem Fall statt haben müsse, wo sie zur Wirkung haben würde den provocirenden Staat zur Aenderung seines Benehmens zu veranlassen, ist eine unzulässige Forderung Carnazza. Amari's, da die Wirkung nicht mit Sicherheit vorausbestimmt werden kann.

Die erwidernde Handlung kann der zu erwidernden entweder gleich oder ähnlich sein und kann sich auf denselben Gegenstand oder einen anderen beziehen und auch in anderer Form geschehen. Der Souverän, welcher nicht zufrieden ist mit der Behandlung seiner Unterthanen durch eine andere Nation, kann daher nicht blos, wie Twiss meint, erklären, daß er die Mitglieder jener Nation in gleicher Weise wie seine eigenen Unterthanen behandelt würden, behandeln werde. Auch Fiore statuirt nur gleiche Behandlung. Dagegen sagt schon F. G. v. Martens mit Recht, daß Retorsion geübt werden könne, indem ein Staat dieselben oder andere ähnliche Gebräuche weigere und daß auch der Gegenstand nicht derselbe zu sein brauche. Heffter führt in letterer Hinsicht aus, daß wenn nach der Natur des Falles nicht genau an denselben Gegen. ständen oder in derselben Form eine Retaliation geschehen könne, was der andere Staat gegen das Ausland statuire, eine analoge Anwendung

des Princips nach den diesseits gegebenen Verhältnissen durchaus unverfänglich und gerecht sei.19) F. v. Martens versteht zunächst unter Retorsion die Vergeltung des Gleichen mit Gleichem, läßt aber bei der Ausübung ähnliche Maßnahmen oder Pressionsmittel zu. Phillimore statuirt eine entsprechende Reciprocität der Praxis seitens des verlegten Staates gegen die Regierung und die Einwohner des verlegenden Staates, für die Ausübung der Retorsion aber auch die Analogie, Hall und Carnazza- Amari eine identische oder genau (closely) analoge Art der Behandlung, Woolsey eine gleiche oder analoge Weise. Daß die zu erwidernde Unbilligkeit aber eine gleich schwere sei, wird wohl nicht immer zu erreichen sein, wohl aber gefordert werden können, daß sie nicht schwerer sei. Mit Recht hat Wurm (1. c. 460) bemerkt, daß der Umstand, daß die erwidernde Unbilligkeit den gegnerischen Staat gleich empfindlich träfe, nicht zur Steigerung des Maßes oder der Art berechtige. Der Anwendung der Retorsion müsse wie jeder gewaltthätigen Handlung eine Verhandlung unter den betreffenden Staaten vorausgehen, wenn diese eine Abstellung der Unbilligkeit als Genugthuung nicht erreichte, könne dann die Retorsion eintreten. 2o)

1) Berner 1. c. 597.

2) Burchardi 1. c. 497.

3) Carnazza. Amari 1. c. 591.
4) Heffter 1. c. Note 3.

5) Phillimore 1. c. S. 17.

6) Bulmerincq, Handbuch des Völkerrechts, § 11.

7) Webster and Wheeler, The people's Dictionary of the English

language.

8) Bulmerincq, Handbuch des Völkerrechts, § 28.

9) Bulmerincq 1. c. § 29.

10) Bulmerincq § 30.

11) Bulmerincq § 34.
12) Bulmerincq § 35.
13) Bulmerincq § 36.
14) Bulmerincq § 37.
15) Bulmerincq § 38.
16) Bulmerincq § 39.
17) Bulmerincq § 40.

18) Bulmerincq § 41.

19) Vgl. auch Moser VIII. 488 und Burchardi 1. c. 499; Carnazza

Amari 1. c.

Twiss 1. c.; Carnazza Amari 1. c.

§ 18.

Anordnung einer Retorsion.

Anordnen kann eine Retorsion nur die Staatsgewalt, da Retorsionen von Staaten gegen Staaten auch dann geübt werden, wenn das zur Erlangung der Billigkeit gegen die Staatsangehörigen noth. wendig geworden, oder wenn eine Staatsgewalt unbilliges Benehmen ihrer Angehörigen gegen die anderer Staaten zugelassen hat. Die Unbilligkeit eines Staatsangehörigen oder einer Staatsbehörde ist immer nur ein entfernterer Anlaß zur Retorsion, der nächste Anlaß muß in der Unbilligkeit der Staatsgewalt selbst liegen, d. h. es muß der Staat das unbillige Verfahren seiner Staatsangehörigen oder Behörden, soweit er dasselbe nicht angeordnet, schweigend oder ausdrücklich gebilligt oder demselben zugestimmt und es dadurch zu dem seinigen gemacht haben.1) Eines legislativen Beschlusses vor der Anordnung einer Retorsion) bedarf es nur in dem Falle, wenn zur Ausübung derselben gesetzliche Bestimmungen abgeändert werden sollen.) Das einer jeden Behörde innerhalb ihres Geschäftskreises von Burchardi und der obersten Gerichtsstelle in Justizsachen von Wurm zugesprochene Recht der Retorsionsverfügung ist unzulässig, da diese ein Souveränetätsrecht ist, welches nur der Staatsgewalt selbst zustehen kann.

Auch kann die Retorsion als Maßregel der Selbsthülfe der Staaten regelmäßig nur von Staaten und nur delegirtermaßen von den Behörden der Staaten als deren Organen, jedoch nur im Auftrage des höchsten Organs geübt werden. Einzelnen ist die Ausübung von Retorsionen nicht zu gestatten, da Selbsthülfe der Einzelnen im Völkerrecht unstatthaft ist. Das Bedenken, wonach Retorsionsmaßregeln Einzelne treffen könnten, wird wohl dadurch entkräftet, daß sie in der Regel gegen eine ganze Classe der Bevölkerung z. B. Handeltreibende oder Gewerbe treibende oder gar gegen den gesammten Staat durch die Systeme und Ordnungen des Handelsverkehrs und Gewerbebetriebes oder gegen die gesammte Bevölkerung durch unbilliges, allgemeines, materielles Recht oder Rechtsverfahren gerichtet sind. Schon Moser (VIII. 486) sagte aber, daß meist Souveräne (sollte wohl richtiger heißen: Staaten) sich derselben gegen einander bedienen.

zu Gunsten eines fremden, nicht einmal im Bundesverhältniß mit ihm stehenden Staates kann ein Staat keine Retorsion verfügen oder ausüben. Auch kann eine Retorsion immer nur gegen einen dieselbe veranlassenden Staat, nicht gegen einen anderen geübt werden. Schon Bynkershoek) sagte: „Retorsio non est nisi adversus eum, qui ipse damni quid dedit, ac deinde patitur, non vero adversus communem amicum. Qui iniuriam non fecit, non recte patitur.“

Eine Unbilligkeit ist indeß nicht immer blos durch Retorsion erwidert worden; insbesondere wenn dadurch die Erhaltung der Existenz eines Staates bedroht wurde, ist sie Anlaß zu einem Kriege geworden wie zu dem Hollands gegen England in Anlaß der Cromwell'schen Na. vigationsacte und Ludwigs XIV. gegen Holland wegen Nichtaufhebung des Verbots französischer Waaren.5)

1) Berner 597; Wurm 459.

2) Heffter 1. c.

3) Burchardi 1. c.

4) Bynkershoek, Qu. jur. publ. I. IV.

5) Burchardi 498 ff.

$ 19. Retorsionsfälle.

Die Lehre der Retorsion würde gewiß von einer Sammlung, Prüfung, Beurtheilung und Classification der Retorsionsfälle Vortheil ziehen, indeß sind diese bisher von den Autoren wenig beachtet worden. In den von Ch. de Martens herausgegebenen Causes celèbres finden wir keinen einzigen. Vattel und F. v. Martens führen nur je einen an, Heffter u. A. keinen. Calvo sagt freilich, daß die Geschichte der Französischen Revolution von 1789 zahlreiche Beispiele liefere, führt aber nur an das Decret des Convents vom 16. August 1793, wonach die Güter der Spanischen Unterthanen in Frankreich confiscirt werden sollten zur Erwiderung ähnlicher Maßregeln Karls IV. rücksichtlich der Liegenschaften der Franzosen in Spanien. Sodann bezeichnet er seiner Entstehung und seinem Zweck nach als Uebertreibung des Retorsionsprincips Napoleons I. von Berlin aus am 21. November 1806 erlassenes Decret, wonach er die Blocade aller Küsten des Vereinigten Königreichs und die Confiscation alles auf dem Meer oder auf dem Continent anzutreffenden Englischen Eigenthums proclamirte. CarnazzaAmari beschränkt sich auf den ersteren Fall.

Selbst Wurm, welchem man eine Kenntniß von Völkerrechtsfällen nicht absprechen kann, hat praktische Retorsionsfälle fast gar nicht nam haft gemacht, sondern hauptsächlich die Ansichten der Autoren über den rechtmäßigen Gebrauch der Retorsion" und die Particulargesetzgebung und die von den Gerichtshöfen befolgte Doctrin geprüft, lezteres aber nicht, „um daraus das Völkerrecht zu entnehmen, sondern weil daraus die Maxime einzelner Staaten und der Umfang erhellt, in welchem sie von einer völkerrechtlichen Befugniß Gebrauch zu machen gedenken. Burchardi läßt praktische Retorsionsfälle unbeachtet, wie er denn überhaupt die Retorsion nur gelegentlich der Repressalien behandelt. Ueber. haupt ist aber auch literarisch die Retorsion von fast allen Völkerrechtsautoren mit nur einigen Säßen abgethan worden.

II. Repressalien.

Literatur: Bartolus a Saxoferrato, Tractatus represaliarum, 1354. Hugo Grotius, De iure belli ac pacis. III. II.,,ubi de repressaliis." Wolff, Jus gentium. § 592 ff. Bynkershoek, Quaestionum iuris publici libri duo. 1737. Wurm, Art. Völkerrechtliche Selbsthülfe in Rotted's Staatslexikon 1843. Bd. XIV. 457 ff. u. 1848 Bd. XII. 111 ff. Berner in Bluntschli's Staatswörterbuch 1864. VIII. 596 ff. s. v. Repressalie. Burchardi in Rotted's Staatslexikon 1865. Bd. XII. 496 ff. s. v. Repressalien. Bulmerincq in v. Holzendorffs Rechtslexikon s. v. Repressalien. Mas Latrie, Droit de marque ou droit de représailles au moyen âge. Paris 1866. - Vattel, Droit des gens. Edit. Pradier-Fodéré. Paris 1863. II. §§ 342-354. Moser, Versuch des Europäischen Völkerrechts. Th. VIII. u. IX. G. F. v. Martens, Droit des gens. 2 éd. Vergé. Paris 1864. Th. II. § 255. 1851. § 234. System des Völkerrechts 1866. 226. recht. Nördlingen 1878. § 500–504.

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Klüber, Europäisches Völkerrecht.

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Heffter, Völkerrecht 1881, § 111. Oppenheim,
Bluntschli, Das moderne Völker.
Wildmann, Institutes of

Philli

international law. London 1849. I. 186. Manning, Commentaries on the law of nations. London 1875. Ed. Sheldon-Amos 145. more, Commentaries upon international law. London 1873. III. 18. Twiss, The law of nations. London 1875, 20. Hall, International law. Oxford 1880. § 120. Wheaton, Éléments du droit international. Leipzig 1864. I. 275. Woolsey, Introduction to the study of international law. London 1879, 188. Calvo, Le droit international théorique et pratique. Paris 1880. II. 597. Fiore, Nouveau droit international public. Paris 1885. II. §§ 1229, 1230. CarnazzaWharton, Amari, Droit international public. Paris 1882. 589 ff. A Digest of the international law of the United States taken from documents issued by presidents and secretaries of state and from decisions of federal courts and opinions of attorneys-general. Washington 1886. III. § 318. F. v. Martens, Völkerrecht. Berlin 1886. II., 468. Bulmerincq, Handbuch des Völkerrechts § 91.

§ 20.

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Definition der Repressalien und ihnen verwandte Institute des Alterthums und des Mittelalters.

Mit dem Ausdruck Repressalien (Französisch represailles, Englisch reprisal, Italienisch rappresaglia und ripresaglia) bezeichnete man früher die eigenmächtige Wegnahme eines fremden Gegenstandes, auch einer Person, in Veranlassung oder zur Wiedervergeltung einer dem Weg. nehmenden widerfahrenen Rechtsverlegung.) Er bezeichnet aber heute im Staatenverkehr die in Friedenszeiten eine Rechtswidrigkeit eines

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