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Eine so grosse Entfernung zwischen dem Kanton Genf und Schottland liegt, den Heimatländern beider Männer, eine so kleine liegt zwischen den Orten, wo die Wiege ihres Geschlechtes stand: Rousseaus Vorfahren stammten aus Frankreich, aus Paris, diejenigen Byrons aus der Normandie. Aber fern liegt es uns natürlich diesem zufälligen Umstande irgend welche Bedeutung zuzumessen. Interessanter ist es, zu beobachten, wie sich schon bei ihren Eltern eine Reihe von Ähnlichkeiten finden. Ihre Väter waren beide selbstsüchtige, leichtsinnige Männer; derjenige Rousseaus liess seine Frau gleich nach der Geburt ihres ersten Kindes in Genf zurück, um nach Konstantinopel zu wandern und dort Uhrmacher im Serail zu werden, derjenige Byrons entführte die Frau eines andern. Sie brachten es beide dahin, dass ihr Bleiben im Vaterlande eine Unmöglichkeit wurde. Der eine floh wegen Ehrenhändel nach Nyon im Waadtland, der andere wegen Schulden nach Frankreich. Auch darin waren sie einander gleich, dass sie sich sehr wenig um die Erziehung ihrer Söhne kümmerten. So fehlte den Kindern von vornherein die strenge und doch liebevolle Vaterhand. 1) Sie wurden um so mehr verzogen, als sie beide einzige Kinder waren; nicht ganz im eigentlichen Sinne des Wortes, denn Rousseau hatte noch einen älteren Bruder, Byron eine ältere Halbschwester, aber sie wurden doch nicht mit diesen erzogen und haben jugendliche Geschwisterliebe

1) Stern Death forbade my orphan youth to share
The tender guidance of a father's care.
Can rank, or e'en a guardian's name, supply
The love which glistens in a father's eye?

Childish Recollections.

somit nicht kennen gelernt. 1) Auch die Elternliebe genossen sie beide nur halb, wie Rousseau früh seine Mutter, so verlor Byron früh seinen Vater, beide waren schon in ihrer Kindheit halbe Waisen. Aber wenn doch nun ihre übrig bleibenden Verwandten sie pflichtgetreu erzogen hätten! Doch das war nicht der Fall. 2) Rousseaus Vater las mit dem 7jährigen Knaben ganze Nächte hindurch Romane und begnügte sich damit, das Geschick des 16jährigen, der davongelaufen war, zu beweinen, anstatt ihn zurückzuholen; er war am Ende froh, für den verlorenen Sohn nicht mehr sorgen und ihm sein mütterliches Erbteil nicht auszahlen zu müssen. Die Mutter Byrons war im höchsten Grade launisch; ohne tieferes Gefühl, ohne rechte Liebe zu ihrem Kinde, überschüttete sie dasselbe bald mit Schmähungen über seine Ungezogenheit und seine Missgestalt, bald mit unverdienten Liebkosungen. Beiden gegenüber verloren die Kinder bald alle Achtung und alles Vertrauen. Sie schlossen sich demnach um so enger an diejenigen Personen an, unter deren unmittelbarer Pflege und Obhut sie standen; so kam es, dass die Namen ihrer Wärterinnen, Jacqueline und May Gray, von den dankbaren Zöglingen der Nachwelt überliefert sind; bei ihnen fanden sie beide Entgegenkommen und Gefühl für ihre kleinen Leiden und Freuden. Später suchte ihr junges, liebebedürftiges Herz Ersatz für den Mangel an Familienleben in der Freundschaft zu gleichalterigen Ge

1) On n'a plus eu de ses nouvelles depuis ce temps-là, et voilà comment je suis demeuré fils unique. Conf. I.

I have remarked a curious coincidence, which almost looks like a fatality. My mother, my wife, my daughter, my half-sister, my sister's mother, my natural daughter (as far at least as I am concerned), and myself, are all only children. to Murray. Dec. 10. 1821.

2) So wuchsen beide ohne eigentliche Erziehung auf: De tous les hommes, celui dont le caractère dérive le plus pleinement de son seul tempérament est Jean-Jacques. Il est ce que l'a fait la nature: l'éducation ne l'a que bien peu modifié. 2. Dial.

He had been ill brought up, and was born bilious.

D. J. I. 35.

nossen. Beide schildern ihre Jugendfreundschaften als aussergewöhnlich innig und hingebend. Rousseaus Busenfreund war sein Vetter, der Sohn des Ingenieurs Bernard, zu dem er in Pension gegeben wurde, als sein Vater aus Genf entflohn, Byrons intimster Jugendfreund war Lord Clare. Byron sagt selber: My school-friendships were with me passions 1), und Rousseau schildert sehr schön, wie er und sein Vetter geradezu nicht ohne einander leben konnten. 2) Bei einem solchen Drange nach Bethätigung des Gemüts nimmt es uns nicht Wunder, dass beide auch schon früh Liebesgedanken hegten, finden wir doch diese Erscheinung fast bei allen grossen Dichtern. Indes, so wichtig es uns erscheint, gerade auf die Jugend beider Männer Rücksicht zu nehmen, weil in ihr sich ihre spätere Manneszeit im Spiegel zeigt, weil sie uns erst dieselbe erklärt, weil sie die Quelle ihres Talents und aller ihrer Leiden war, so verzichten wir doch hier darauf, alle Geliebten anzuführen, denen sie ihr junges Herz geweiht, und alle Plätze, an welchen sie dies gethan; wir erwähnen nur die Thatsache dieser frühen Neigungen, die von ihnen selbst bestätigt ist. Sie konnten um so mehr diesem Hange nachgehen, als sie meist unbeobachtet waren, und man sich wenig um ihre Erziehung kümmerte. Daher kam es auch, dass sie beide in der Schule wenig leisteten, niemand war da, der sie zum Fleiss anhalten und ihnen die Schule angenehm machen konnte; sie wurden infolge dessen für schlecht begabte Knaben gehalten; nur wenige Menschen sahen in ihnen den Funken, der, wenn er angefacht würde, einst zu einer göttlichen Flamme auflodern könnte. Bei Rousseau war es Frau von Warens, die seine Begabung schon früh erkannte, bei Byron that es Dr. Drury, der Rektor von Harrow-College. Aber auch sie selbst scheinen eigentümlicher Weise schon jung sich ihrer hohen

1) M. I. 37.

2) Notre attachement l'un pour l'autre était extrême; non-seulement nous ne pouvions vivre un instant séparés, mais nous n'imaginions pas que nous pussions jamais l'être. Conf. I.

Bestimmung bewusst gewesen zu sein, Rousseau begleiten durch seine ganze wilde Jugend hochfliegende Ideen und die Zuversicht, einst eine hervorragende Stellung einzunehmen, Byron glaubt ebenfalls, er werde einst in irgend einer Hinsicht seine Mitmenschen weit hinter sich lassen. Freilich, dies konnte in keinem Fache geschehen, in dem ausdauernde Arbeit erforderlich war, dazu waren sie beide nicht geschaffen, dazu waren sie auch nicht erzogen. Die Arbeit haben sie in ihrem Leben ebenso wenig kennen gelernt, als den Gehorsam; in allem, was sie thaten, folgten sie nur ihren eigenen augenblicklichen, wechselvollen Neigungen. So sagt Byron: I hate tasks 1) und Rousseau: En toute chose imaginable, ce que je ne fais pas avec plaisir m'est bientôt impossible à faire. 2) Ähnlich finden wir auch in ihren Werken die Arbeit dargestellt, sie ist selten bei Rousseau wirklich ernst, aufrichtig, einem Ziele zustrebend, und Byron lässt Cain sich ewig darüber beschweren, dass Gott den Menschen zur Arbeit verdammt hat, dass er ihn aus dem arbeitlosen Paradiese verstossen.

So zur Arbeit im allgemeinen wenig geneigt, waren sie es auch im besonderen zum Studium. Byron fasst bei seinem in der Einleitung angeführten Vergleiche diese seine Eigentümlichkeit als einen Gegensatz auf, der ihn von Rousseau unterscheidet3). Er irrt sich, gerade hierin stimmten sie sehr überein; wie er, sagt Rousseau mit klaren Worten: La vie appliquée et sédentaire ne me plaît ni ne me convient1). Il faut que je ne sois pas né pour l'étude; car une longue application me fatigue à tel point qu'il m'est impossible de m'occuper une demi-heure de suite avec force du même sujet3). Quand j'ai suivi durant quelques pages un auteur qu'il faut lire avec application, mon esprit l'abandonne et se perd dans les nuages. Si je m'obstine, je m'épuise inutilement; les éblouissements me prennent; je ne vois plus rien®). Alle ihre Studien behielten einen wenig eingehenden

1) to Murray. Apr. 6. 1819. 2) Rêv. 6. Prom.

3) J never could learn any thing by study.

4) 2. Dial.

5) Conf. VI.

6) Conf. VI.

Charakter. Damit hängt zusammen, dass sie zu einem bestimmten Berufe unbrauchbar waren, sie konnten sich nicht in eine geregelte und gebundene Thätigkeit finden. Man gab Rousseau bei einem Gerichtsschreiber in die Lehre, der ihn aber bald fortschickte, weil er sich zu ungelehrig zeigte, darauf zu einem Kupferstecher, dem er entlief; bei Frau von Warens machte er dann nach einander vergebliche Versuche, sich zum Prediger, Kanzlisten und Musiklehrer auszubilden. Beide hielten sich seltsamerweise für die diplomatische Laufbahn geeignet, Rousseau arbeitete eine Zeit lang bei der Gesandtschaft in Venedig, und Byron hatte, nachdem er seinen Sitz im Oberhause eingenommen anfangs die Absicht sich zum Staatsmann auszubilden. Mit Recht sagt der erste von sich: J'étais destiné à être le rebut de tous les états1) und der andere: At five-and-twenty, when the better part of life is over, one should be something; and what am J? nothing but five-and-twenty and the odd months2). Was sie nicht waren und nicht zu werden vermochten, straften sie mit Verachtung: wer einen Beruf ergreift und in ihm zu Ehren und Würden gelangt, kann dies nur auf krummen Wegen bewerkstelligen, nur mit Concessionen an die gesellschaftliche Lüge und Heuchelei, mit unwürdiger Verzichtleistung auf seine eigene, bessere, unabhängige Persönlichkeit. Ja, die Arbeit in einem Berufe erscheint Rousseau sogar lächerlich und verächtlich: Si j'aime quelquefois à penser, c'est librement et sans gêne, en laissant aller à leur gré mes idées sans les assujettir à rien. Mais penser

à ceci ou à cela par devoir, par métier, mettre à mes productions de la correction, de la méthode, est pour moi le travail d'un galérien; et penser pour vivre me paraît la plus pénible ainsi que la plus ridicule de toutes les occupations3).

Wenn sie sich nun auch als wenig lernbegierige Schüler zeigten und für einen bestimmten Beruf untüchtig waren, SO müssen wir ihnen ohne Zweifel dennoch

1) Conf. III.

2 Journal.

3) 2. Dial.

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